Freifahrtschein: Alter weißer Mann
Es ist Mittwochmorgen, der 6. November 2024. Kaum zu glauben, wie die Zeit vergeht – aber manche Erinnerungen brennen sich einfach ein. Ich sehe mich wieder im Auto sitzen, es war 2016, als plötzlich die Nachricht durchs Radio schallte: Donald J. Trump ist der 45. Präsident der Vereinigten Staaten von Amerika. Schockstarre. Wie konnte so etwas passieren? Was wird jetzt aus den USA? Aus der Welt? Aus uns? Wie soll ein Mensch, der nicht die leiseste politische Qualifikation besitzt und schon damals mit radikalen Ansichten schockierte, ausgerechnet die größte Volkswirtschaft der Welt verantwortungsvoll führen? Jetzt, acht Jahre später, stehen wir wieder am selben Punkt. Ich hatte gehofft – nein, eigentlich fest geglaubt –, dass das Land seine Lektion gelernt hätte. Dass vier Jahre Chaos gereicht hätten, um zu erkennen, was es bedeutet, wenn ein Mann seine eigenen Regeln schreibt und nach Lust und Laune alles umkrempelt, was vorher als sicher galt. Doch hier sind wir wieder, und dieses Mal steht zu befürchten, dass es noch härter, noch extremer wird. Eine zweite Amtszeit – das bedeutet nicht nur „weiter wie bisher“. Es bedeutet eine Version 2.0, ein ungehemmter, ungebremster Trump, der alles, was ihm widerspricht, radikal in den Boden stampfen könnte. In anderen Worten: Project 2025.Wer schützt uns jetzt vor dem Zerfall der Demokratie? Wenn Trump das Weiße Haus, den Senat und den Supreme Court unter seiner Kontrolle hat, bleibt kaum noch etwas, das ihn davon abhält, die Grundpfeiler der Demokratie ins Wanken zu bringen. Die Checks & Balances, auf die so stolz verwiesen wird – sie könnten sich in bloße Theorie verwandeln. Und während das drohende Gewitter auf uns zu rollt, sitzen sie da: Putin, Erdoğan, Orbán und andere Despot*innen dieser Welt, mit einem zufriedenen Lächeln. Denn sie wissen genau, wer von einer harten Trumppolitik profitiert. Sie selbst.
Aber was eint diese Männer? Sie sind alt, sie sind weiß, und sie haben Erfolg – einen Erfolg, der erschreckend unantastbar wirkt – wo ist sie, die vielbeschworene Cancel Culture? Es scheint, als könnten sie alles tun, als würde jeder Eklat, jede menschenverachtende Äußerung und jede faschistoide Offenbarung an ihnen abprallen. Doch warum? Warum entscheiden sich so viele Menschen gegen Freiheit und Menschlichkeit, um an einem System festzuhalten, das sich gegen die Werte einer offenen Gesellschaft stellt? Warum bleibt die Verführungskraft eines autoritären Systems so stark?
Vielleicht, weil die Freiheit oft unbequem ist. Sie fordert Verantwortung, sie verlangt Mut, und sie schenkt keine simplen Antworten. Während autoritäre Systeme mit eiserner Faust Klarheit vortäuschen, bleibt die Demokratie ein Raum voller Meinungen und Widersprüche. Ein Raum, der sich ständig verändert und uns ständig fordert – und für viele scheint das offenbar beängstigender als die Aussicht auf rigide, einfache Machtstrukturen
Debatte: Eigene Identität vs. Projektion von außen
Der Wahlkampf der Harris-Kampagne war von Anfang an ein Hürdenlauf. Eine Strategie aus dem Nichts aufzubauen, Spenden in Rekordhöhe zu sammeln, prominente Unterstützung zu mobilisieren – all das erfordert eine enorme Menge an Kraft und Ressourcen. Und Harris? Sie hat es geschafft. Vor drei Monaten war ich noch voller Enthusiasmus. Ehrlich gesagt, bis heute Morgen hielt ich an der Hoffnung fest. Doch dann passierte es: The Red Mirage. Der ersehnte Blue Shift blieb aus. Trotz all der unermüdlichen Anstrengungen.
Am Ende stellt sich wieder die gleiche bittere Frage: Kann eine Frau – noch dazu eine Schwarze Frau – Präsidentin der Vereinigten Staaten werden? Im Jahr 2024 sollte das eigentlich keine Debatte mehr sein. Doch offenbar ist Harris’ Identität in den Augen vieler Wahlberechtigter immer noch wichtiger als ihre Expertise oder Führungsstärke. Sie wurde nie wirklich als die erfahrene Politikerin wahrgenommen, die sie ist. Harris ist keineswegs ein unbeschriebenes Blatt. Auch sie hat im Laufe ihrer Karriere Entscheidungen getroffen, die sie Stimmen gekostet haben – sei es in Fragen der Migration, der Wirtschaft oder ihrer Haltung zum Genozid in Gaza. Doch selbst mit all diesen Herausforderungen hätte ihre Erfahrung, ihre unbestreitbare Kompetenz, ihre strategische Brillanz und ihr beeindruckendes Durchhaltevermögen – im Vergleich zu Trump – ausreichen müssen, um sie als Führungspersönlichkeit zu etablieren.
Doch genau das passierte nicht. Ihre Qualifikationen wurden von einer mächtigen, fremdbestimmten Projektion überlagert – einem verzerrten Bild, das andere für sie aufgebaut haben. Ein Bild, das weniger mit ihren tatsächlichen Fähigkeiten und mehr mit ihren Merkmalen als Schwarze Frau zu tun hat. Ihre Erfolge und ihre politischen Errungenschaften wurden dadurch nicht nur relativiert, sondern fast unsichtbar gemacht.
Passend dazu: Trump ging sogar so weit, öffentlich ihre Identität als Schwarze Frau anzuzweifeln, selbst in Gegenwart anderer Schwarzer Frauen. Und es hat gewirkt. Bei seinem Publikum reichten allein diese Zweifel, um ihre Legitimität infrage zu stellen. Eine perfide Taktik, die zeigt, wie tief Rassismus und Sexismus intersektional wirken.
Es scheint, als würde allein die Tatsache, dass Harris eine Schwarze Frau ist, sie zur Symbolfigur einer Bedrohung machen: für ein System, das sich krampfhaft an das Altbekannte klammert. Die Mehrheit der Menschen hat sich erneut für das Vertraute entschieden – für jemanden, der vermeintlich Stabilität verkörpert, auch wenn es nur der Rückschritt in längst überwunden geglaubte Zeiten ist. Harris? Sie wurde zur Projektionsfläche für alles, wovor sich dieses System fürchtet: Wandel, Diversität, Zukunft – und, so paradox es klingen mag, auch Freiheit.
Ironisch, nicht wahr? Trump muss nichts anderes tun, als Angst zu schüren. Harris hingegen hätte die Welt verändern können – aber nicht, weil sie es wollte. Sondern weil andere es ihr von Anfang an unterstellten.
Am Ende bleibt eine entscheidende Frage: Wie viel Kontrolle haben wir tatsächlich darüber, wie wir von außen wahrgenommen werden? Wie oft müssen wir uns selbst und unsere Absichten erklären, um wahrgenommen zu werden – wirklich wahrgenommen zu werden! Ich taste mich hier an eine Vermutung heran: Erschreckend wenig.
Kamala als Papala?
Wäre heute Morgen kein Faschist ins Weiße Haus eingezogen, wenn Harris ein Mann wäre? Diese Frage war das Erste, was mir durch den Kopf schoss, als die BBC-Pop-up-Nachricht auf meinem Handy aufleuchtete: Trump hat die nötigen 270 Wahlleute, um erneut nach DC zurückzukehren. Es ist erschreckend, dass mir genau dieser Gedanke als Erstes kam. Doch genau das zeigt, wie tief verwurzelt der Sexismus ist, der diese Wahl vermutlich mitgeformt hat.
Wer lieber einen verurteilten Straftäter wählt – einen Mann, der imaginären Menschenmassen zuwinkt, wenn er den Gerichtssaal nach seiner Anhörung in New York verlässt – statt einer erfahrenen Staatsanwältin, setzt klare Prioritäten. Da geht es nicht um Kompetenz oder Führungsstärke. Da stehen ganz andere Themen auf der Agenda.
Als ich die Dokumentation Wirklich nochmal Trump, Amerika? von Ingo Zamperoni gesehen habe, blieb mir eine Frau besonders im Gedächtnis: Courtney Downs aus Greenleaf, Wisconsin. Ein Bundesstaat, der Joe Biden 2020 zum Sieg verholfen hat – damals ein entscheidender Teil der sogenannten Blue Wall. Doch diesmal fehlte diese Unterstützung für Harris. Einer der Gründe? Frauen wie Courtney Downs, vor allem weiße Frauen, wie die Wahlergebnisse zeigen, sind nach wie vor von einer Form des Sexismus geprägt, die sich nicht sofort aufdrängt. Sie schreit nicht ins Gesicht: „Frauen gehören nicht in Führungspositionen!“ Nein, es ist der subtilere, tief internalisierte Sexismus, den Frauen verinnerlicht haben, oft ohne es zu merken.
Bei Courtney wird dieser Effekt noch durch ihre Bibeltreue verstärkt. Ihrer Meinung nach – und ich zitiere sinngemäß – seien Frauen „viel zu emotional“, um ein Amt wie das des Präsidenten auszufüllen. Ja, ich gendere hier bewusst nicht, um die Wucht dieses Statements in seiner ganzen Tragweite zu zeigen.
Aber warum betone ich hier so stark das Frau-Sein von Harris? Natürlich bin ich mir bewusst, dass sie als Person of Colour ohnehin schon genug Barrieren zu überwinden hat. Doch es ist genau diese spezifische Kombination – oder vielmehr die Intersektion – aus Ethnie und Geschlecht, die ihr zum Verhängnis wurde. 2009, als Barack Obama zum Präsidenten gewählt wurde, war seine Identität als Schwarzer Mann kein Deal Breaker. War die Gesellschaft damals liberaler? Oder haben sich die politischen Lager – auch dank Trump – in den letzten Jahren so radikal verhärtet, dass wir lieber einem Kriminellen vertrauen, nur weil er der Dominanzgesellschaft ähnlicher sieht?
Ich habe keine endgültigen Antworten auf diese Fragen. Was ich jedoch sicher weiß, ist, dass diese Wahl nicht nur ein politischer Machtkampf war. Sie ist ein Spiegelbild dessen, wie tief verwurzelt gesellschaftliche Vorurteile, verkrustete Machtstrukturen und kapitalistische Interessen miteinander verwoben sind. Diese perfekte Symbiose aus Angst und Status quo treibt Menschen dazu, sich ans Altbekannte zu klammern – an eine vermeintlich „starke Hand“, auch wenn sie destruktiv ist.
Für mich ist das ein ernüchternder Beweis dafür, dass wir von der Welt, wie ich sie mir wünsche, noch Lichtjahre entfernt sind.
Mittel zum Sieg: Angst schüren, Hass verbreiten?
Was uns dieser Sieg zeigt: Wir alle sind beeinflussbar. Geschickt inszenierte Erzählungen – von der angeblich aufgefressenen Hauskatze über Männlichkeitsmythen in Podcasts à la Andrew Tate bis hin zur aufgeheizten Debatte um das Bürgergeld – verzerren unser Bild von Realität, Menschen und Fakten. Meinungen werden auf eine Stufe mit Fakten gestellt, und wer versucht, Meinungen mit Fakten zu widerlegen, stößt oft auf wenig Verständnis oder gar keine Beach. Denn Fakten, die nicht ins eigene Weltbild passen, werden schlicht ignoriert. Es ist bequemer, alles zu glauben, was sich vertraut anfühlt – das spart Energie. Aber ist es auch klug?
Angst und Hass sind seit jeher mächtigere Treiber als Fürsorge und Nächstenliebe. Alle, die in der Medienwelt arbeiten, wissen das. Ganze Industrien basieren darauf, Menschen durch Angst zu bestimmten Handlungen zu bewegen – looking at you, Babyindustrie! Eltern wollen nur das Beste für ihre Kinder, klar. Doch genau das macht sie empfänglich für Botschaften wie: „Nur dieser überteuerte Kinderwagen garantiert die komplette Sicherheit deines kleinen Engels.“ Solche Mechanismen funktionieren auch in der Politik. Menschen werden nicht durch rationale Argumente überzeugt, sondern durch Instinkt und Emotionen. Angst lässt uns zu vermeintlich sicheren Optionen greifen – selbst wenn diese in Wahrheit alles andere als sicher sind.
Und so sehen wir, wie verzerrte Narrative, Fake News und Manipulationen auf Social Media dazu führen, dass Trump für viele die scheinbar vertraute und sichere Wahl bleibt. Harris hingegen steht für das, was auch wir bei doppelpakk repräsentieren: Vielfalt, Veränderung und den Mut, neue Wege zu gehen. Sie fordert uns heraus, starre Strukturen zu überdenken und Lösungen zu finden, die alle mit einbeziehen – nicht nur eine dominante Gruppe. Genau das ist unsere tägliche Arbeit: neue, integrative Ansätze entwickeln, experimentieren, lernen und scheitern, um besser zu werden.
Wie bereits erwähnt: Veränderung bleibt unbequem. Sie bedeutet, sich auf unsicheres Terrain zu begeben, Gewohntes loszulassen und sich dem Neuen zu stellen. Und ja, das macht Angst. Kein Wunder also, dass viele lieber gegen etwas sind, als sich klar zu positionieren, wofür sie eigentlich stehen. Es ist leichter, gegen Veränderung zu kämpfen, als sich für eine Vision stark zu machen. Genau hier setzen wir mit unserer Arbeit an. Wir geben unseren Verbündeten einen klaren Fahrplan an die Hand, der Vielfalt fördert, Mitarbeitende sensibilisiert und eine Kultur des Für statt des Gegen schafft – und das funktioniert vor allem in Unternehmen nur, wenn wir authentisch kommunizieren, ehrlich bei der Faktenlage bleiben und mutig die eigenen Missstände ansprechen. Toxische Narrative lassen sich nur durchbrechen, wenn wir uns aktiv mit ihnen auseinandersetzen und unsere eigenen Ängste erkennen und überwinden. Vielfaltsarbeit bedeutet für uns, Räume zu schaffen, in denen Unsicherheiten, Ängste und Gedanken Platz finden – und genau da entsteht die Möglichkeit, eine Kultur des Für zu etablieren. Auch wenn dieser Weg kein leichter ist, bleiben wir bei Harris, wenn sie sagt: Sometimes the fight takes a while. (dt. Manchmal braucht der Kampf einfach seine Zeit.) Und genau diesen Kampf nehmen wir an – immer wieder, immer weiter.